Dystonie und Botolinum-Neurotoxin (BoNT)

Neues aus der Pharmaforschung

Zur Studie

Fortschritt in der Therapie

Zervikaler Dystonien


DaxibotulinumtoxinA  (Produktname "Daxxify") ist eine neuerliche Weiterentwicklung des BotolinumtoxinA. Es zeichnet sich zum einen durch eine längere Wirkdauer und zum anderen durch seine vegane Zusammensetzung der Trägersubstanz (Peptid-Stabilisator statt tierischer Proteine) aus. Letzteres dürfte die Gefahr der Antikörperbildung deutlich reduzieren.


Hinzu kommt beim DaxibotulinumtoxinA eine raschere Wirkung, mitunter schon binnen ein bis zwei Tagen. Und nicht zuletzt weist das DaxbotolinumtoxinA eine niedrigere Diffusionsrate auf, was präzisere Injektionen ermöglicht.


Zunächst wurde DaxibotulinumtoxinA lediglich für kosmetische Zwecke zugelassen. in 2024-25 ist eine erste überaus erfolgversprechende Studie zur Behandlung auch bei Zervikalen Dystonien erfolgt.

Botolinum-Neurotoxine (BoNT) auch gegen dystone Bewegungsstörungen

Botolinum-Neurotoxine (BoNT) - hochwirksame Nervengifte - kommen seit vielen Jahren in der Medizin, unter anderem zur Reduzierung spastischer oder dystoner Verkrampfungen, in Form von Injektionstherapien zum Einsatz.


Botolinum-Neurotoxine werden von Bakterien der Art Clostridium botolinum produziert. Wohl bzw. minimalst dosiert und gezielt gespritzt vermögen sie Muskeln zu lähmen, indem sie, zumindest für eine Weile, die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln verhindern.

Botox-Therapie: Entwickelt von einem Augenarzt und Lebensmittelchemiker

Arzneien werden seit vielen Jahrzehnten von der Pharmaindustrie entwickelt. Ihre Entwicklungen sind marktorientiert. So forschen, erproben und produzieren Pharmafirmen vorrangig mit Bezug zu Erkrankungen, die verhältnismäßig häufig vorkommen. Dies vor allem, weil es ihnen einen sicheren Absatzmarkt bietet.


Bei der "Botox-Therapie" war es anders. Der amerikanische Augenarzt Dr. Alan Scott (Bild links) wollte das Leid schielender Menschen operationsfrei lindern. Dabei kam ihm die Idee, dass eine winzige Dosis Nervengift den Muskel im Auge zeitweilig lähmen könnte, der den Augapfel, den Blick und das Aussehen beeinträchtigend. nach innen zieht.


Sein Freund, ein Biochemiker, Dr. Johnson (Bild rechts), der seinerzeit Botolin-Neuroumtoxine für mögliche militärische Zwecke entwickelte, schickte Dr. Scott eine Probe. Und: Es funktionierte! Warum? Dass wusste er seinerzeit nicht.

1989 wurde sodann „Oculinum“, wie Dr. Scott sein Medikament nennen sollte, von den US-Behörden als Injektionsarznei gegen Schielen zugelassen und begann von dort aus seinen zunächst "medizinischen" und später erst auch "kosmetischen" Siegeszug um die Welt. Seit 2006 kommen Botolinum-Neurotoxine medizinisch auch in Deutschland zum Einsatz.


Dr. Alan Scott: Ein "echter Held", wie ich finde, zumindest für viele Millionen Menschen, die von muskulären Fehlfunktionen betroffen sind und - aufgrund seiner Entwicklung - eine erhebliche Linderung ihres Leids erfahren können. Und das Ende der Geschicht', verkaufe arglos kein Patent mal nicht! So hätte Herr Scott Multimillionär, wenn nicht gar Milliardär sein können, ist bzw. war er aber nicht (...).

Botolinum-Neurotoxine: Wenn Bakterien Gift produzieren

Interessanter Artikel vom Deutschlandfunk Kultur: "Mit Wurstgift gegen Falten"

Bei Botolinum-Neurotoxin handelt es sich um einen Sammelbegriff für mehrere bzw. ähnliche neurotoxische Proteine, also Eiweiße, welche die Übertragung elektrischer Impulse zwischen Nerven und Muskeln zeitweilig oder dauerhaft außer Gefecht setzen können. Dieses lähmende Gift wird von den Bakterien Clostridium botolinum gebildet bzw. ausgeschieden, weshalb es sich um ein Exotoxin handelt.


Entdeckt wurde das Nervengift in der Folge der Einführung der Konservierung von Lebensmitteln in Dosen. So versagte die (Atem)Muskulatur von Menschen, die Wurst und Fleisch genossen hatten, die mit zu geringen Mengen Salz konserviert und zudem zu warm aufbewahrt worden waren (siehe "Mit Wurstgift gegen Falten", Button links anklicken).

Botolin-Neurotoxin:

Vom Gift zur Arznei

In der Pharmakologie wird zwischen "Arzneien" und "Giften" unterschieden. Ein Arznei (auch Medikament genannt) ist ein Stoff oder eine Stoffzusammensetzung, die Lebewesen zur Heilung, Linderung oder Vergütung einer körperlichen oder geistigen gesundheitlichen Beeinträchtigung verabreicht wird. Bei einem Gift handelt es sich um eine Substanz, die - wenn sie von einem Lebewesen aufgenommen und verstoffwechselt wird - diesem einen vorübergehenden, dauerhaften oder gar tödlichen Schaden zufügen kann.


Beim Botolinum-Neurotoxin handelt es sich um ein Bakterium bzw. Bakterien die, wie ihre Endsilbe "Toxin" bereits verraten, giftig sind. Ein Gramm dieses Giftes, in seiner Reinform reicht aus, um alle Menschen einer Großstadt zu töten.


In seltenen Fällen können Gifte, so sie sachgerecht aufbereitet und zweckmäßig dosiert werden, eine therapeutische Wirkung entfalten. Botolinum-Neurotoxine zählen dazu.

Funktion der intramuskulären Botolinum-Neurotoxin-Injektionstherapie

Zahlreiche Dystoniebetroffene erhalten bestimmte Botolinum-Neurotoxine in jene Muskeln gespritzt, die besonders stark oder dauerhaft zittern, zucken und/oder krampfen und zu Fehlbewegungen, Fehlhaltungen oder schlimmstenfalls Fehlstellungen führen.


Das Nervengift verhindert für eine Weile biochemisch, dass die fehlerhaft aus dem Gehirn kommende elektrische Signale, die über das Rückenmark und die peripheren Nerven im Normalfall die Muskulatur erreichen, nicht mehr zu bestimmten von Dystonie betroffenen Muskeln weitergeleitet werden können. Schaue Dir gerne zur weiteren Verdeutlichung das links verlinkte Video an.

Dystonie und kleine Nager

Mäuseeinheit: Eine tödliche Truppe?!

Ärztinnen und Ärzte gegen Botox-Tierversuche

Dystoniebetroffene stolpern über manch‘ besondere Begriffe. Einer von ihnen ist „Mäuseeinheit“ (engl. Mouse Unit). Hierbei handelt es sich nicht, wie man annehmen könnte, um eine Spezialtruppe der kleinen Nager. Vielmehr beschreibt die Mäuseeinheit jene Menge eines Botolinum-Neurotoxins, die ausreicht, um eine 20 Gramm schwere weibliche Maus in 15 Minuten zu töten. Kurzum: Je kleiner die Mäuseeinheit (engl. Mouse Unit; MU), umso tödlicher ein Gift.


Traurig ist, dass jede Produktion (Charge) eines medizinischen oder kosmetischen Botolinum-Neurotoxins immer wieder auf ihre Wirkung  im Rahmen von Tierversuchen an Mäusen zu testen ist. Umso fragwürdiger seine Verwendung aus ästhetischen bzw.  schönheitskosmetischen Gründen. Ein Erfolg ist indes, dass einige Hersteller von Botolinum-Neurotoxinen (siehe Zusatzinformationen) mittlerweile zellbasierte Tests entwickelt und zugelassen bekommen haben. Maßgeblich waren Initiativen des Vereins "Ärztinnen und Ärzten gegen Tierversuche" (Für nähere Informationen klicke auf den Button links.).


Zusatzinformationen

Allergan hat 2011 eine behördliche Zulassung für eine Zellkulturmethode zur Testung seiner Botox-Produkte erhalten. Merz erhielt im November 2015 eben diese. Beide Firmen ersetzen damit allerdings nur einen Teil ihrer Tierversuche, streben - eigenen Angaben zufolge - aber einen Verzicht auf Tierversuche an. Der französische Hersteller Ipsen hat im August 2018 eine Zulassung für zellbasiertes Tests in der Europäischen Union und der Schweiz erhalten. 

Botolinum-Neurotoxin Injektions-therapie oder: Die Spritzen müssen wirklich sitzen!

Der Erfolg einer Botolinum-Neurotoxin-Therapie hängt, zur Linderung insbesondere fokaler Dystonien, von vielen Faktoren ab: (1) Intensität der Dystonie bzw. der dystonen Symptome selbst, (2) dem gewählten Botolinum-Neurotoxin, (3) seiner situativen Qualität (Aufmischungsart, Temperatur etc.), (4) der injizierten Menge, (5) vom "Spritzmuster" (wieviel, genau wo gespritzt wird), (6) der Injektionstiefe, (7) dem Injektionsintervall,  (8) den bereits gebildeten Antikörpern gegen die Trägersubstanz des Nervengiftes sowie (9) der Erfahrung des injizierenden Arztes bzw. der Ärztin.


Manche Ärztinnen und Ärzte spritzen fühlend und dann, im wahrsten Wortsinn, mit Gefühl. Andere nehmen sich ein Ultraschallgerät zu bildgebenden Hilfe. Einige wenige Spritzen unter Zuhilfenahme eines EMG-Gerätes, mit dem der Spannungszustand eines Muskels elektrisch abgeleitet und auf diese Weise gemessen werden kann.

Botox versus Dysport

versus Xeomin

Alle guten Dinge sind drei?!


Die Botolinum-Neurotoxin-Therapie hat sich unter anderem zur Behandlung fokaler und segmentaler Dystonien bewährt. Im medizinischen Angebot sind mittlerweile unterschiedliche Typ-A-Präparate, unter anderem "Botox" (Allergan), Dysport (Ipsen) und "Xeomin" (Merz Pharma GmbH & Co KGaG). Betroffene stellen wiederholt die Frage, wo denn der Unterschied liegt. Botox und Dysport enthalten in ihrer Trägersubstanz Proteine, wohingegen Xeomin eben diese nicht enthält, was ein geringeres Risiko für eine Antikörperbildung gegen eben diese bedeutet. Weitere Unterschiede im Überblick:


Ausbreitung (Diffusion)

  • Botox: Geringe Ausbreitung, ideal für gezielte, präzise Anwendungen
  • Dysport: Stärkere und schnellere Ausbreitung, besser für größere Flächen
  • Xeomin: Ähnliche Ausbreitung wie Botox


Wirkungseintritt

  • Dysport: schnelle Wirkung (nach 24 Std.)
  • Botox: eher langsame Wirkung (ca. 72 Std.)
  • Xeomin: Wirkt ähnlich wie Botox


Dosierung

Dysport benötigt eine höhere Dosis (ca. 3:1) als Botox oder Xeomin, um eine vergleichbare Wirkung zu erzielen.

Spritzmuster

Der Begriff "Spritzmuster" ist doch irgendwie ulkig. Unbenommen des Themas Injektionstherapie, löst er bei mir unweigerlich ein vielfältiges Kopfkino aus. Von Gartenbewässerung und Spurensicherung bei der Polizei, über Tortendekoration, bis Feuerwehr.


Mit Bezug zu intramuskulären Injektionstherapien, die das Spritzen von Medikamenten in Rahmen einer Therapiesitzung an mehreren zusammenhängenden Stellen erforderlich macht, steht der Begriff für ein Abbild/eine Auflistung jener Orte (Zielpunkte), in die erfahrungsgemäß, zum Entfalten der besten Wirkung, gewisse Mengen etwa Botolinum-Neurotoxins eingebracht werden müssen.


Grundsätzlich wird zwischen standardisierten und individuellen Spritzmustern unterschieden. So spritzen Ärztinnen und Ärzte bei Dystoniebetroffenen nicht einfach "nur so" oder "mal eben" los. Vielmehr greifen sie anfänglich grundsätzlich auch auf die Erfahrungen Dritter, im Sinne von "Best Practice" - national wie international - zurück und folgen einem daraus resultierenden "Spritzmuster", das nach und nach in den Folgetherapien, im Austausch zwischen den Behandelnden und den Zu-Behandelnden entsteht.

Wirkverluste

 Antikörper werden grundsätzlich nicht gegen das Botolinum-Neurotoxin als solches, sondern gegen die proteinhaltigen Trägersubstanzenaufgebaut.

Fachartikel zu Neutralisierenden Antikörpern

Wiederholt berichten Dystoniebetroffene davon, dass sie anfänglich von einer Injektionstherapie mit einem Botolinum-Neurotoxin gut profitieren, deren Wirkung jedoch irgendwann ausbleibt. Dabei kommen „schleichende Wirkverluste“ sowie „spontane Wirkverluste“ vor.


Wenn bei gleichen Injektionsdosen und Spritzintervallen die Wirkung schleichend schwächer wird, kann das daran liegen, dass sich die Dystonie verschlimmert hat, was wiederum einer Anpassung des Spritzmusters, eine Erhöhung der Dosis oder des Therapieintervalls erfordert.


Sollte sich die ursprüngliche Wirkung nach Überprüfung der vorgenannten Rahmenbedingungen nicht wieder einstellen, gilt es labormedizinisch zu schauen, ob Betroffene sogenannte Antikörper gegen das injizierte Präparat entwickelt haben. In diesen Fällen besteht zunächst die Möglichkeit eines Präparatwechsels. Gelegentlich wird ärztlicherseits eine Therapiepause empfohlen. Lediglich in Einzelfällen ist die Therapie gänzlich einzustellen.


Wenn bei gleichbleibendem Botolinumtoxin, bei unveränderter Dosis und bei identischem Spritzmuster die Wirkung von einem Mal auf das Andere in Gänze ausbleibt, also ein „spontaner Wirkverlust“ vorliegt, könnte dies daran liegen, dass die relevanten Muskeln nicht (oder nicht richtig) getroffen worden sind. Ferner kommt es in Einzelfällen vor, dass das Botolinumtoxin „verdorben“ ist, weil es entweder unsachgemäß gelagert, oder auf dem Transport – wo und durch wen auch immer – die Kühlkette unterbrochen worden ist. Bestimmtes Botolinumtoxin ist, bei all seiner Giftigkeit, da durchaus sensibel!